Die Bewertung im Detail: „Marzanna, Göttin des Todes“ hat sich 5 Sterne, „Freund oder Feind“ 4,5 Sterne verdient.
„Ich muss einen Mord anzeigen.“ Die junge Lucja (Irene Böhm) ist seelisch in keiner guten Verfassung, doch sie glaubt, was sie geträumt hat: Ihre Psychotherapeutin wird umgebracht werden. Bei ihrer Mutter hatte sie schon einmal einen solchen Traum, und er hat sich bewahrheitet. Dorfpolizist Leon Pawlak (Sebastian Hülk) und erst recht die Kriminal-Technikerin Viktoria Wex (Claudia Eisinger) schätzen den Wahrheitsgehalt prophetischer Albträume ausgesprochen gering ein. Lucja habe wegen ihrer toten Mutter Verlustängste, beschwichtigt denn auch die Psychologin. Tags darauf treibt sie tot im See. Aus einem Sorgerechtsstreit, in den sie als Gutachterin involviert war, ließe sich ein mögliches Mordmotiv ableiten. Jan Nowak (Timo Jacobs), ein Ex-Junkie auf dem Weg in ein normales Leben, hoffte auf eine positive Bewertung von ihr, um endlich wiederKontaktzu seiner Tochter aufnehmen zu können. Seine Ex-Frau (Janina Elkin) und deren Eltern (Wieslawa Weselowska, Olgierd Lukaszewicz) sind allerdings in der Bewertung des straffällig gewordenen Mannes nicht einer Meinung. Da beide Todesfälle, der der Psychologin und der von Lucjas Mutter, sich nach dem traditionellen Marzanna-Fest ereigneten, bei dem Alkohol und Drogen im Spiel sind, werden die Ermittlungen ausgeweitet. Und als Pawlak und Dr. Wex in einem Bootshaus eine Art Lust-Séparée entdecken, bekommt der Fall eine neue Wendung.
Foto: Degeto / Karolina Grabowska
„Marzanna, Göttin des Todes“ ist nach den beiden vielversprechenden Auftaktfilmen im Mai 2021 die bislang beste Episode der „Masuren-Krimi“-Reihe und der beste ARD-Auslandskrimi am Donnerstag seit langer Zeit. Autorin Ulli Stephan, die auch die ersten beiden Drehbücher geschrieben hat, erweckt die Sagenwelt der Naturlandschaft im Norden Polens für die Geschichte zum Leben; das erinnert im Angang ein wenig an den ZDF-„Spreewaldkrimi“. Der Mythos der zwiespältigen, titelgebenden Rachegöttin, die die Untreue in der Liebe bestraft, gelangt zumindest über denHintereingangin die Geschichte: Sexspiele und Ehebruch sind Motive, die dem Krimiplot im Schlussdrittel eine neue Perspektive geben. Von noch größerer Bedeutung für den nachhaltigen Eindruck des Films sind die ungewohnten, authentischen Schauplätze, der glaubwürdige Cast mit (gut synchronisierten) polnischen, deutsch-polnischen oder deutschen Schauspielern, die als Polen durchgehen, und eine Landschaft, die dazu verführt, in Bildern zu erzählen. Als Zuschauer sieht man sich quasi über die Bilder, die Charaktere, die von weniger bekannten TV-Gesichtern verkörpert werden, und das Milieu in die Geschichte ein. Darin ähnelt „Marzanna“ in Dramaturgie und in seiner realistischen Anmutung dem rbb-„Polizeiruf“. Der Dialog ist sparsam, kein geschwätziges Ermittler-Geplapper. Was für eine Wohltat!
All diese Pluspunkte resultieren aus der Konzeption der Reihe: eine analytische und zugleich traumatisierte, einsilbig bis empathielose Einzelgängerin als weibliche Hauptfigur. Diese Frau nimmt von allem und jedem Proben, tüftelt und werkelt in ihrem Labor herum – und das stets allein. Was auf den ersten Blick dramaturgisch unsexy erscheint, unterstützt zugleich denrealistischenEindruck (im Gegensatz zu einer Erzählung, diemehrdie Wirkung für den Zuschauer als die Glaubwürdigkeit der filminternen Kommunikation im Sinn hat) und entwickelt in Kombination mit dieser eigenwilligen Analytikerin plus der markanten „Augen-Schauspielerin“ Claudia Eisinger beim Zusehen eine beinahe magische Faszination und weckt Neugierde. Diese wird nie sofort vollständig befriedigt, da Viktoria Wex keine Frau ist, die Selbstgespräche hält, um den Zuschauer zu informieren. Ihre Analyseergebnisse teilt sie wenig später präzise, aber immer knapp ihren Kollegen mit, der leitenden Kommissarin Zofia Kowalska (Karolina Lodyga) und dem Polizisten Leon, der Ex-Mann Zofias. Auch er passt bestens ins Konzept der Blicke: Der Pole ist ein sehr umgänglicher Mensch, angenehm zurückhaltend macht er keine überflüssigen Worte, sondern bekundet lieber mit kleinen Gesten der Deutschen seine Sympathie. In einer der schönsten Szenen des Films versucht er, seiner niedergeschlagenen Kollegin zu vermitteln, weshalb es sich auch für sie zu leben lohnt.
Foto: Degeto / Karolina Grabowska
Das seelische Aufbauprogramm hat einen guten Grund. Viktoria Wex ist immer noch von dem Tod ihres Lebenspartners, der wie sie bei der Berliner Polizei gearbeitet hat, traumatisiert. In psychotherapeutische Behandlung will sie sich allerdings nicht begeben, was ihr die Rückkehr an ihren alten Arbeitsplatz verbaut. Der Zuschauer wird immer wieder Augenzeuge ihrer Posttraumatischen Belastungsstörung. Der tote Felix ist allgegenwärtig: Mal fährt er im Auto mit, mal tanzt sie mit ihm, mal liegt er auf dem Obduktionstisch, mal fetzen sich die beiden. Der Tod des Geliebten lässt Viktoria nicht los. Auch, weil sie Ungereimtheiten in seinen Ermittlungsakten erkennt. Und am Ende von „Marzanna“ wird ihr ein Stick mit einer Nachricht zugespielt, die die emotionale, dramatische Vorlage zum zweiten neuen Film liefert: „Freund oder Feind“. Der Titel bezieht sich nicht nur auf Felix, der offenbar ein Doppelleben geführt hat, sondern auch auf den freundlichen Kollegen. Während ihre Felix-Visionen an den Grundfesten ihres rationalen Weltbilds rütteln, vertraut Viktoria, misstrauisch geworden durch ihre eigene „Liebesgeschichte“, im Fall um einen kaltblütig erschossenen IT-Unternehmer einmalmehrganz auf die Fakten. Denn Fakten lügen nicht. Und so ist sie es, die aus Leon Nowak den Hauptverdächtigen macht in diesem Fall, der in eine IT-Firma führt, die für ihre Kunden System-Sicherheitslücken aufspürt. In den Fall verstrickt ist er tatsächlich: Ob Mörder oder nicht – eine kriminelle Jugendsünde könnte ihm zumindest den Job kosten.
„Freund oder Feind“ ist nach einem für den Fall nicht unbedeutenden Ausflug ins Grüne mit Viktoria, Leon und seiner Tochter Emilia (Matilda Jork) zu Beginn weitgehend in einem modernen Milieu angesiedelt und entsprechend reduzierter, stylisher & cooler, was die Ausstattung angeht, und auch die Bildsprache besitzt eine größere Klarheit und Transparenz. Der sternenklare Himmel in den Nachtbildern, die Architektur, das Design (im intelligenten Haus des Opfers), die Choreographie der menschlichen Körper in der wenig menschlich anmutenden IT-Firma – auch das alles ist ästhetisch reizvoll. Der Saugroboter des Toten, der vor Blutlachen nicht Halt macht, bringt sogar leise Ironie ins Spiel. Auf die Charaktere aber färbt das nicht ab. Die haben Existenzbedrohendes zu bewältigen. Auch wenn das Motiveine Hauptfigur unter Verdachtheute zu den Erzählstandards der zahllosen Krimi-Reihen gehört, so gelingt Autorin Nadine Schweigardt hier eine wenig konventionell wirkende Variation. Ohnehin ist die individuelle Tonart dieser Reihe, das dramaturgische Konzept und die filmische Form, das, was diese beiden Filme besonders macht. Krimiplots werden heute nichtmehrneu erfunden, aber die Erzählweise, die Perspektive, die Eigenart der Charaktere oder die Atmosphäre der Schauplätze können aus dem vermeintlich Bekannten etwas aufregend Neues schaffen. Diesen von Kinoregisseur Sven Taddicken und von Kamerafrau Fee Strothmann ambitioniert umgesetzten „Masuren-Krimis“ gelingt das vorbildlich.
Foto: Degeto / Karolina Grabowska